Reisebericht

Mitten hinein
in den Regenwald

Wolf-Dieter Pfistner ist einer der bekanntesten Costa Rica Kenner.
Seit 1980 besucht er regelmässig das mittelamerikanische Land.
Für unsere Zeitschrift erforscht er den Dschungel per Boot.

Mit dichten Nebelschwaden verabschiedet sich die Nacht vom tiefgrünen Regenwald. Die ersten Strahlen der Morgensonne fallen auf die Berghänge des Nationalparks Piedras Blancas. Plötzlich bewegt sich etwas im Unterholz: „Was ist denn das für ein Tier?", flüstert der Münchner Klaus Raabe und drückt die Nase etwas dichter an das Fenster des Toyota Landcruiser. Gerardo Martinez hat die Bewegung auch gesehen und stoppt sofort das Auto. „Das ist ein Tamandua", erklärte er. Der dicke Ameisenbär klettert langsam und bedächtig auf einen Baum, um dann im hohlen Stamm zu verschwinden. Es wird Zeit fürs Termitenfrühstück. Gerardo Martinez nickt zufrieden: „Am Morgen kann man die Tiere am besten beobachten", sagt der Touristenführer fröhlich. Seine Mitfahrer im Heck des Jeeps, der langsam über die holprigen Wege des Nationalparks rumpelt, schweigen. Für ausführliche Gespräche ist es noch viel zu früh, selbst für die gesellige Gruppe der sieben Deutschen, die seit 14 Tagen Costa Rica erkunden. Gestärkt durch „Gallo pinto", das typische costaricanische Frühstück aus Reis mit Bohnen und Rührei, waren sie in aller Herrgottsfrühe von der schön gelegenen Purruja Lodge bei Golfito am Pazifikstrand ganz im Süden des Landes nach Sierpe gestartet. Zu Hause sind die drei Frauen und vier Männer mittleren Alters Büroangestellte, Hausfrauen, Werbefachleute - echte „Stadtmenschen" eben. Doch heute versuchen sie sich bei einer eintägigen Bootstour über den Rio Sierpe in einer ganz anderen Rolle: als Entdecker des Regenwaldes.

Geführte Bootstouren sind in Costa Rica bei Touristen sehr beliebt. Denn auf diese Art ist die einmalige tropische Flora und Fauna Mittelamerikas sehr einfach zu ergründen. Zwischen 50 und 90 Dollar kostet eine mehrstündige Tour pro Person. Dafür haben Urlauber die seltene Gelegenheit, sehr nahe an die scheuen Tiere und seltenen Pflanzen des Dschungels heranzukommen. Die Boote sind bequem und sicher, die „Kapitäne" wie Gerardo Martinez stammen aus Fischerfamilien und kennen ihre Flüsse auswendig.
Im Schatten der überhängenden Äste gleitet das Boot langsam flussaufwärts, an Bord ersetzen stumme Handzeichen die Sprache. Jeder konzentriert sich darauf, dem Dschungel einige seiner Geheimnisse zu entreißen. Unmittelbar erstirbt das Tuckern des Motors und das Boot gleitet auf das Ufer zu. Die Späher sehen sich suchend um. Gerardo Martinez ausgestreckter Finger deutet auf etwas fast Unsichtbares:
Eine meterlange gelbbraune Echse liegt gut getarnt im Sand und lässt sich von der Sonne wärmen. Beim Anblick der Besucher gleitet der Leguan, ein Pflanzenfresser, geräuschlos in das trübe Wasser. Einige weiße Reiher in der Nähe fühlen sich gestört und suchen mit ruderndem Schwingenschlag elegant das Weite.

Die Augen gewöhnen sich langsam an das grüne Dickicht und lernen die wichtigen von den unwichtigen Dingen zu unterscheiden. Und doch haben alle Probleme, etwas zu erkennen, als Martinez plötzlich aufgeregt „Culebra - eine Schlange" zischt. Tatsächlich: Knapp über dem Boot liegt auf einer Astgabel der säuberlich zusammengerollte Körper einer Boa. Die Riesenschlange ruht sich tagsüber von ihren nächtlichen Beutezügen aus. Gerardo Martinez kitzelt sie mit einem langen Stock. Wild züngelnd hebt das Tier den Kopf, faucht unwillig und entzieht ihren gut zwei Meter langen Körper baumaufwärts kriechend den neugierigen Touristenblicken. Nicht nur große, auch kleine Dschungelbewohner versetzen die Besucher aus dem fernen Europa in Entzücken: „Das muss man gesehen haben", entfährt es Bernd Meier, als er einen ungewöhnlichen Schmetterling bemerkt. Was im ersten Moment wie ein großes herabfallendes Blatt ausschaut, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein Eulenfalter. Mehr taumelnd als fliegend überbrückt er die Distanz zwischen zwei in kräftigem Rot blühenden Sträuchern.

Die spektakuläre Natur ist der größte Reichtum des weltweit größten Bananenlieferanten Costa Rica: Mehr als ein Viertel der Fläche des Landes steht unter Naturschutz, viele vom Aussterben bedrohte Tiere finden in den Wäldern und Reservaten ihren Lebensraum: Pumas, Jaguare, Krokodile, Riesenschildkröten, 27.000 verschiedene Schmetterlings- und 1.000 Orchideenarten. Costa Rica, die „reiche Küste", wie Christoph Kolumbus sie nannte, ist deshalb eines der weltweit wichtigsten Ziele des Natur- und Ökotourismus. Auch weil die Infrastruktur des politisch stabilen Landes das Erkunden der Naturschätze in den 35 Nationalparks einfacher macht als in den lateinamerikanischen Nachbarländern.

Eine Stunde ist seit der Abfahrt in Sierpe vergangen. Selten zeigen sich Menschen am Ufer, nur ab und zu nimmt man eine Hütte wahr, dahinter durch Brand gerodeten Dschungel. Zwei bis drei Ernten können eingebracht werden, bevor der ausgelaugte Boden wieder unter der grünen Hand des Waldes verschwindet. Durch umgestürzte und angeschwemmte Bäume ist der Fluss schmal geworden. Gerardo Martinez ist noch vorsichtiger geworden. Er stellt den Motor ab und lenkt mit gezielten Paddelschlägen das Boot um die Baumstämme herum. „Ein kleiner Kaiman!" Ingrid Meier hat ihn als Erste erspäht. Nah gleitet das Boot an das regungslos dösende Tier heran, die Auslöser der Fotoapparate sind der einzig hörbare Laut. Erst als Gerardo Martinez den Motor wieder anwirft, hat der Kaiman genug: Mit zwei, drei schnellen Schwanzschlägen verschwindet er zwischen den angetriebenen Baumstämmen. Sonnenstrahlen kringeln sich auf dem Wasser und eine fast unheimliche Ruhe lastet über dem tropischen Regenwald, nur unterbrochen von gelegentlichen Vogelstimmen oder dem Konzert der Singzikaden. Wieder und wieder schweifen die Blicke über das dichte Blätterwerk. Wo ist eines der gut getarnten Tiere zu sehen? Bunte Aras, Agutis, Krabben, Tukane geraten vor die Kamera. Doch mit der Zeit lässt die Aufmerksamkeit nach - heiß ist es geworden, der Wald verschmilzt zu einer grünen Einheit. Konzentriertes Spähen macht müde.

Zeit für eine Pause. Gerardo Martinez steuert eine Fischerhütte an. Er kennt die Familie, die hier lebt, gut und achtet darauf, dass der heimischen Tradition folgend zuerst das Familienoberhaupt und dann die Söhne dem Alter nach begrüßt werden. Im Schatten eines Mangobaumes wird der mitgenommene Proviant verteilt. „Ihr müsst unbedingt die Früchte probieren“ rufen Erika und Ingrid ihren Männern zu, denn ausser Sandwiches gibt es frische Ananas, Mangos, Papayas und natürlich Bananen. Sie sind ungewohnt klein, aber sehr aromatisch und wohlschmeckend. Anschliessend nutzt jeder die Gelegenheit, mitten im Garten Eden die Augen zu schließen und ein bisschen zu dösen.

Ein Blick zum Himmel lässt Gerardo Martinez zum Aufbruch drängen: Dunkle Wolken sind aufgezogen. Jeder verabschiedet sich mit Handschlag von den gastfreundlichen „Ticos", wie sich die Costaricaner selbst nennen. Wird der Himmel seine Schleusen öffnen, bevor das Boot den Ausgangspunkt erreicht? Ein böiger Wind bläst über den Fluss und es ist kühler geworden. Doch die Gruppe hat Glück. Die schweren Tropfen fallen erst, als das Boot die Anlegestelle erreicht hat. Im Laufschritt geht es zurück zum Jeep. Gerade noch geschafft, denn kaum eine Minute später prasselt der Tropenregen nieder, die Wassermassen nehmen jede Sicht. Aber das stört niemanden. Die Zwangspause wird genutzt, um die Eindrücke des Tages noch einmal Revue passieren zu lassen. Ingrid spricht dann das aus was alle denken: „Auf dem Wasser ist eine Tierfotosafari viel ergiebiger als bei einer Wanderung“.

WOLF-DIETER PFISTNER